Ihren Onkel John H. Waterfall, genannt Jack, kannten sie nur vom Hörensagen, die Geschichte seines Todes blieb für die Familie jahrzehntelang im Dunkeln. Das Internet, funktionierende Archive und ein Zufall machten es möglich, dass die Nachfahren der Geschwister jetzt mehr über das Schicksal des damals 22-jährigen Farmersohnes aus dem Dörfchen Southery in Ostengland wissen. Er starb in der Nacht zum 7. Juli 1940 bei einem Angriff auf den Flugplatz Upjever im Kugelhagel der Flugabwehrgeschütze. Beim Absturz der Wellington IC R 3236 kamen auch seine vier Kameraden ums Leben. Sie wurden in Jever mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Die Familie hat im vergangenen Jahr nach den Spuren des gefallenen Angehörigen gesucht und fand sie – in den Archiven, in Gesprächen mit Kennern der Militärgeschichte sowie mit Zeitzeugen, auf dem jeverschen Friedhof und schließlich auch an der Absturzstelle. Nun plant die Familie für 2015 zur 75. Wiederkehr der Fliegertragödie ein Gedenktreffen mit allen Angehörigen.
Der letzte Flug des Jack Waterfall
Von Helmut Burlager

Jever – Mission 20 am Abend des 6. Juli 1940 steht unter keinem guten Stern. Es herrscht Schietwetter, als die drei in Feltwell in Südostengland gestarteten Bomber vom Typ Vickers Wellington von Borkum her in deutschen Luftraum einfliegen, Bestimmungsort Bremen. Tief hängende Wolken, kaum Lücken dazwischen, es ist unmöglich, die Bomben über dem geplanten Ziel abzuwerfen. Sie müssen umkehren. Doch die Royal Air Force nimmt keine Bomben mit nach Hause. Vermutlich fliegen die Besatzungen erst Varel an, dann Upjever. Es ist 2.20 Uhr. Im Tiefflug, 50 Meter über dem Boden, nähert sich die Maschine von Captain D. W. Lindsay dem Fliegerhorst. Sie wird bemerkt; aus allen Rohren feuern die sechs Flakgeschütze am Rande des Flugfelds, dann nimmt eine 20-Millimeter-Kanone von Halle 1 her den Flieger unter Beschuss.
John H. Waterfall, 22-jähriger Farmersohn aus der Provinz East Anglia, stirbt noch in der Luft. Den Heckschützen erwischt eine MG-Kugel. Er kriegt wahrscheinlich nicht mehr mit, wie die Wellington abschmiert, Baumwipfel
streift, ganze Eichen abrasiert und schließlich am Waldboden zerschellt. Alle fünf Besatzungsmitglieder sind tot, neben Waterfall auch die Flieger Ball, Aitken, Glen und der Pilot Lindsay. Sie werden zwei Tage später als „unbekannte Engländer“ auf dem Friedhof in Jever mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Unterdessen pilgern Einheimische zur Absturzstelle, schauen sich das Wrack der Wellington an. Davon existieren noch Fotos. Es gibt Zeitungsartikel, militärische Lageberichte, private Tagebucheinträge, Zeitzeugen.

Doch von alledem ahnte die Familie des John H. Waterfall, Jack genannt, bis vor zwei Jahren überhaupt nichts. Zwar wussten Jack Waterfall und seine Cousine Caroline Kesseler, dass es einen Onkel gegeben hatte, der im Krieg gefallen war. Alles andere war graue Vorzeit. Irgendwann kam irgendwer aus der Familie auf die Idee, die Möglichkeiten des Internets zu nutzen und dem Verschwinden des Familienangehörigen im blutigen Zweiten Weltkrieg nachzugehen.
In Jever lebt Frank Pfeifer, 44 Jahre alt. „Alles begann mit der Lektüre der Fliegerhorstchronik von Sybille Schneider“, erinnert er sich. Darin las er von dem Absturz eines englischen Bombers in den frühen Kriegsjahren. Er suchte nach weiteren Informationen im Internet und fand einen Forum, in dem jemand Angehörige der Opfer dieses Absturzes suchte. So begann die Geschichte, die im vergangenen Sommer (2012) in Jever ein nur vorläufiges Ende fand. Frank Pfeifer kam mitJack Waterfall in Kontakt. Nun recherchierten nicht mehr nur die Waterfalls, sondern auch Frank und sein Vater Charly Pfeifer, Mitglied der Gemeinschaft der Flieger deutscher Streitkräfte und brennend an der Sache interessiert. Sie stellten Kontakte zu den Archiven her, kramten Zeitungsausschnitte und weiteres Material hervor und stießen auf einen echten Schatz, das Tagebuch des Sillensteder Heimatforschers Georg Janßen, der sogar Fotos von dem Ereignis eingeklebt hatte. Charly und Frank Pfeifer lokalisierten die exakte Lage der Gräber auf dem jeverschen Friedhof, sie analysierten Luftbilder, sie fanden die Absturzstelle und mit Hilfe von Metalldetektoren schließlich gar Überreste der Maschine.

Bewegend sei das, sehr, sehr emotional, sagte Jack Waterfall, nachdem man mit den Pfeifers, dem Militärhistoriker Volker Graw, der Bibliothekarin Christiane Baier vom Schlossmuseum Jever, Stadtführerin Margrit Hashagen und Übersetzer Jim Jenkins zuerst im Schloss, dann in der Bücherei, schließlich auf dem Friedhof gewesen war. Am Abend dann Einkehr ins Offizierheim auf dem Fliegerhorst – dem Fliegerhorst, der einst Ziel des Bombers gewesen war. Am nächsten Morgen brachen die Briten in aller Frühe in den Forst auf, um die Absturzstelle zu sehen.
Ein bewegender Moment: Auf den Tag genau 72 Jahre, nachdem ihr Onkel John Henry Waterfall 22-jährig beim Absturz eines britischen Wellington-Bombers im Forst Upjever ums Leben kam, standen die Nachkommen seiner Geschwister an der Stelle, wo die Maschine am Waldboden zerschellte. Nach ein paar Minuten des Gedenkens, in denen der aus Jever stammende Militärpfarrer Marcus Christ zu den Anwesenden sprach, zeigte Revierförster Carsten Friedrich Streufert den Angehörigen das Umfeld der Absturzstelle. Mit dabei war auch Heino Dirks, viele Jahre Chef der Fliegerhorstfeuerwehr. Er hatte am Abend zuvor bei dem Treffen im Offizierheim auf dem Fliegerhorst erzählt, was er als Zeitzeuge von dem damaligen Ereignis wusste, das viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es war ja am Beginn des Zweiten Weltkrieges, damals wurde im Jeverschen Wochenblatt noch über jedes einzelne Ereignis dieser Art ausführlich berichtet, und es pilgerten auch viele Leute aus der Umgebung zu dem eher nachlässig abgeriegelten Unglücksort. So schilderte es der inzwischen betagte Dirks.
Die Familien Waterfall und Kesseler, die nach der Gedenkfeier zum Soldatenfriedhof Sage weiterfuhren, wo die sterblichen Überreste der fünf jungen Soldaten später ihre endgültige Ruhe fanden, nahmen vom Absturzort ein paar Erinnerungsstücke mit: ein kleines Metallstück vom Rumpf, einen elektrischen Schalter aus dem Cockpit und einen Hydraulikschlauch. Sie sollen nun untersucht werden, um weiter abzusichern, was die Familie jetzt weiß: dass in dieser Maschine ihr Onkel starb.
2015 wollen sie wiederkommen, mit möglichst vielen Angehörigen anderer Besatzungsmitglieder, und der Toten am 75. Jahrestag gedenken. Wer Hinweise zu dem Flugzeugabsturz geben kann, sollte direkt mit der Familie Kontakt aufnehmen. jack.waterfall@ntlworld.com
