Pädagogik vor 100 Jahren: Das Recht zur Züchtigung fremder Kinder

Fundsache aus dem Jeverschen Wochenblatt vom 30. April 1913:

Das Recht zur Züchtigung fremder Kinder

Zu dieser strittigen Frage teilt Herr Oberlandesgerichtsrat Becker-Jena in der Deutschen Juristen-Zeitung folgendes die Allgemeinheit lebhaft interessierende Urteil des Oberlandesgericht Jena mit: Das Zivilrecht gibt den Eltern und sonstigen Gewalthabern das Züchtigungsrecht, aber die Praxis erkennt ein abgeleitetes Züchtigungsrecht Dritter an, wenn eine Züchtigung dem mutmaßlichen Willen des Vaters entspricht, der nicht zur Stelle ist.

Da freilich, wo nach den Umständen der Vater dem Dritten das Züchtigungsrecht nicht übertragen haben würde, dieser auch hierüber nicht im Irrtum war, versagt die Konstruktion, will man nicht in der Züchtigung eine Pflicht des Vaters sehen, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt.

Aber man braucht das abgeleitete Züchtigungsrecht nicht heranzuziehen. Unter Umständen besteht in Ergänzung des elterlichen Züchtigungsrechts ein Recht, fremde Kinder zu züchtigen, als Ausfluss des öffentlichen Rechts. Das Recht der Eltern muss zurücktreten gegen das Recht der Allgemeinheit auf Zucht und Ordnung. Die Allgemeinheit bedarf des Rechts. Deshalb ist das Recht gerade in der jetzigen Volksüberzeugung begründet. Gerade heute wo das Gemeinschaftsleben auch auf dem Gebiete der Erziehung die engen Schranken des Hauses mehr als seither durchbricht, ist es zum Bedürfnis geworden. Es will aber nicht das Recht der Eltern beseitigen. Aber wo Kinder in der Öffentlichkeit Zuchtlosigkeiten begehen, die das sittliche Empfinden normal denkender Menschen verletzten und eine Sühne fordern, tritt das Recht der Allgemeinheit ein. Eine solche Züchtigung darf das Maß nicht überschreiten, in dem ein verständiger Vater das Züchtigungsrecht an seinen eigenen Kindern ausübt.  

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