Tag 53 | Die Lehrerin

Die alte Dame mit dem Rollator sieht so aus, als ob sie in dieser süddeutschen Touristenstadt wohnen könnte, das würde die Suche nach einer Apotheke erleichtern. Bevor ich sie anspreche, sehe ich schon ein Arztrezept im offenen Korb ihres Stützwägelchens liegen, so dass sich die Frage eigentlich erübrigt. „Guten Tag, Entschuldigung. Sie kennen sich hier doch bestimmt aus…?“ „Ich wohne seit fünf Jahren hier“, erklärt die Dame. Also komme ich auf mein Anliegen zu sprechen: „Ich suche eine Apotheke.“ „Dann können Sie mich begleiten, ich bin gerade auf dem Weg dorthin“, antwortet sie.

Gut, das wird also etwas länger dauern als geplant, denn die Schnellste ist sie nicht, dafür sehr nett und auskunftsfreudig, wenn die Stimme auch schon etwas brüchig ist und die Ohren nicht mehr gut hören, so dass ich laut antworten muss. Ich erfahre also auf zweihundertfünfzig Metern, dass sie an der Ostsee geboren wurde, auf einer Insel, deren Namen ich nicht kenne („Sie haben wohl in der Schule nicht aufgepasst, junger Mann?“), dass sie früher in Lübeck gelebt hat, Lehrerin von Beruf war, schon lange hier in der Gegend ansässig ist. Hergezogen, um näher bei ihrem jüngsten Sohn zu sein, und neuerdings, also seit fünf Jahren, wohne sie eben hier in einer Seniorenresidenz. Da sei es recht schön, das Essen lasse sie sich aufs Zimmer kommen. Mal sei es gut, mal nicht, denn es gebe zwei Köche. Der eine könne gut kochen, der andere… Ihr Vater sei Arzt gewesen auf Poel, jener Insel, von der sie stamme, die liege vor Wismar, er habe dort als erster ein Auto gehabt. In die Stadt sei man natürlich mit dem Schiff gefahren.

Wir unterhalten uns blendend. „Oh, Sie können ja lachen, das ist schön“, freut sie sich, als ich eine Bemerkung witzig finde. Doch, erzählt sie auf Nachfrage, ihr gehe es gut, besser jedenfalls als ihren Kindern. Der Älteste sei ja nun auch schon über siebzig und der jüngere mit Anfang sechzig aus gesundheitlichen Gründen bereits im Ruhestand. Ich muss gar nicht fragen, sie erzählt es mir von selbst: Sie ist 95. In der Apotheke angekommen, verlangt sie erstmal freundlich, aber bestimmt, von einer ganz bestimmten Mitarbeiterin bedient zu werden. Als ich aus der Apotheke herauskomme, wartet sie draußen, um sich zu verabschieden, wie es sich gehört. Respekt!