Das Leid der Yeziden
Von Ludger Heuer
Die Yeziden sind Leid gewöhnt, ihr Volk habe in den letzten siebenhundert Jahren 73 Verfolgungen erlitten. Das erklärte Süleyman Kaya, Mitglied des Zentralrats der Yeziden in Deutschland, gestern dem evangelisch-lutherischen Bischof Jan Janssen und Weihbischof Heinrich Timmerevers bei ihrem Besuch im Yezidischen Forum. „Doch diese Verfolgung durch den IS wird unser Volk wohl nicht überleben“, befürchtete er. Zu groß seien die Verluste und bestialischen Abschlachtungen durch die Gotteskrieger. Die Yesiden hätten keine Infrastruktur mehr. „Das, was unser Volk jetzt erleben muss, ist unvorstellbar“, bekräftigte auch Sahap Dag, Vorsitzender des Yezidischen Forums in Oldenburg, der kürzlich von einer Fahrt mit Hilfsgütern aus Flüchtlingslagern im Nordirak zurückgekommen ist. Den Gästen gingen die Schilderungen spürbar unter die Haut.

„Die Flüchtlinge leben dort auf engsten Raum“, schilderte Sahap Dag. Im nordirakischen Dahuk, das noch von Kurden gehalten wird, hätten tausende Yeziden Zuflucht gesucht. Sie leben in halbfertigen Betonhäusern, ohne Sanitärversorgung, Fenster und Türen. In einem Gebäude habe er 262 Familien gezählt. Pro Familie gibt es fünf Quadratmeter, für zehnköpfige Familien vier Matratzen, mit aufgehängten Tüchern versuchen sie etwas Privatsphäre zu schaffen. Er habe bei seinem Besuch gar nicht gewusst, wo er anfangen sollte, erzählte Dag aufgewühlt.
Auf der Flucht vor dem IS-Terror hätten sich viele Tausende Yeziden – ihre Zahl wird auf bis zu 10.000 geschätzt – in das nordirakische Sinjar-Gebirge geflüchtet. Ohne Waffen, Lebensmittel und Wasser säßen sie dort aber buchstäblich in der Falle. „Wir haben die Amerikaner und andere Nationen in den letzten Wochen immer wieder um militärisches Eingreifen gebeten“, erklärte Holger Geissler, Sprecher der Yeziden, mit schwerer Stimme. Jetzt sei es im Westen des Gebirges schon zu spät, weil IS-Kämpfer in die Berge eindringen und keine Front mehr existiere, die bombardiert werden könne. Geissler befürchtet in den nächsten Tagen ein grausames Massaker an den Yeziden. Diese Menschen sollten wenigstens die Chance erhalten sollten, selbstbestimmt zu sterben, um nicht von IS-Kämpfern geköpft zu werden, forderte er. Von den Perschmerga-Milizen, klagte er, komme keine Hilfe. Wenige Minuten, bevor er den Bischöfen davon berichtete, hatte er noch von Kämpfern aktuelle Nachrichten aus dem Gebirge erhalten: „Es fehlt nicht mehr viel, die IS-Kämpfer sind nur noch wenige hundert Meter von uns entfernt“, stand in einer SMS.
Gerade noch diesem Hexenkessel entronnen sind Hanan Ravo Ali (18) und ihr Mann Falah Hasan Khudida (20). Zusammen mit Salah, dem minderjährigen Bruder von Hanan, gelang ihnen die Flicht nach Deutschland. Seit wenigen Wochen leben sie in der Sicherheit einer oldenburger Flüchtlingsunterkunft. „Wer ein Auto hatte, floh in die Türkei“, berichteten sie völlig traumatisiert. Wer keins hatte, ging in die Berge. Ihre Eltern und weitere siebzig Familienmitglieder haben sie zurück gelassen. Das junge Ehepaar muss damit rechnen, keinen wieder lebend zu sehen. Andere Yeziden berichteten unter Tränen vom Schicksal anderer Familienangehöriger: von einer hundertfach vergewaltigten Frau, von Zerstückelungen Wehrloser mit dem Schwert oder von Enthauptungen.
„Es ist schon etwas anderes, schnelle Fernsehbilder zu sehen oder Menschen vor sich zu haben, die gerade ihre Flucht hinter sich haben“, meinte Weihbischof Timmerevers tief berührt. „Ihre Berichte sind mir unter die Haut gegangen und ich bin überzeugt davon, dass die Öffentlichkeit viel mehr darüber erfahren muss“. Ähnlich erging es Bischof Janssen. „Menschen des mittleren Ostens sind unsere Nachbarn und Nächstenliebe endet nicht an der Konfessionsgrenze“, sagte er. „Wir alle müssen zum Lautsprecher für diese Menschen werden, die es noch geschafft haben, dem Terror zu entkommen und jenen, die es nicht mehr schaffen.“ Er dankte den Yeziden dafür, dass sie überhaupt die Kraft hätten, darüber zu berichten. Die internationale Gemeinschaft müsse den Flüchtlingen im Irak und Syrien Schutzräume bieten, forderte er. Außerdem riefen die Bischöfe die deutschen Behörden und die Bundesregierung dazu auf, unbürokratisch menschenfreundliche Hilfe für die schwer gezeichneten Flüchtlinge zu leisten und Familienzusammenführung zu ermöglich. „Es geht um die Humanisierung unserer Gesellschaft“, sagte Janssen.
Denn da sei noch viel möglich, hatte Yeziden-Sprecher Geissler zuvor erklärt. Die lokalen Politiker würden sich zwar immer wieder für das Schicksal von Flüchtlingen einsetzen, doch sie hätten zu wenig Einfluss. Und während Bremen und Baden-Württemberg inzwischen auf eine Erklärung der Kostenübernahme von hier lebenden Verwandten verzichten, die bislang als Vorbedingung für die Einreise von Flüchtlingen galt, und Baden-Württemberg zusätzlich zum Flüchtlingskontingent geschändete Frauen und ihre Kinder aufnehme, fehlten seitens der Bundesregierung und der niedersächsischen Landeregierung entsprechende Zusagen.
„Wir brauchen Ihre Hilfe“, unterstrich Sahap Dag, der sich über den Besuch der Bischöfe sehr freute und ihnen herzlich dafür dankte. In einige Flüchtlingscamps hätten die Yeziden aus Deutschland gute Kontakte. Angesichts des drohenden kalten Winters wollen sie jetzt warme Kleidung und Hilfsgüter sammeln und dorthin bringen. Beide Bischöfe appellierten an die Bevölkerung, sich mit Geld und neuwertigen Sachspenden an den Hilfsmaßnahmen zu beteiligen. „Die Menschen sind auf unsere Hilfe angewiesen“, betonten sie.
(Der Autor Dr. Ludger Heuer ist Pressesprecher des Bischöflich Münsterschen Offizialats der katholischen Kirche in Vechta)